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Meine älteste Akte

Heute habe ich meinen ältesten Fall abgeschlossen, meine Akte trägt ein Aktenzeichen aus 1998. Der Fall ist gleichzeitig ein Stück Familien- und deutscher Geschichte.

Er beginnt im Jahr 1908. Der Bruder meines Großvaters wandert mit seinen 5 Kindern nach Amerika aus, baut dort ein Backwarenunternehmen auf, das heute noch besteht. 1940 setzt er sich zur Ruhe, übergibt das Unternehmen an seinen Schwiegersohn und kehrt nach Deutschland – konkret in seine Heimatstadt Meißen – zurück. Hier kauft er zwei stattliche Mehrfamilienhäuser. Als Teil beider Welten nimmt ihn der Kriegseintritt Deutschlands gegen die USA im Dezember 1941 so mit, dass er 1942 verstirbt. Es bleiben die beiden Häuser, die zu DDR-Zeiten als ausländisches Eigentum unter staatliche Verwaltung gestellt und als Mietwohnungen genutzt werden.

Schon unmittelbar nach der Wende in der DDR 1990 beantragt das letzte noch lebende Kind die Rückübertragung der beiden Grundstücke. Typisch deutsch: der gesamte Erbgang muss mit beglaubigten Urkunden belegt werden, Geburtsurkunden, Eheurkunden, Scheidungsurteile, Sterbeurkunden, Testamente, alles jeweils in beglaubigter Kopie und beglaubigter Übersetzung. Die übermittelte Familiengeschicht spielt weitere Streiche: der Geburtsort des einen Kindes ist als „Niedergerbitz“ übermittelt, was sich nach längerer Detektivarbeit als Gorbitz – Stadtteil von Dresden herausstellt. 1997 sind soweit alle Urkunden beisammen, allerdings muss jetzt die Enkelgeneration tätig werden, für die ich mit der Gründung meiner eigenen Kanzlei tätig werde.

Als rechtliches Problem erweist sich ein Erbzweig: Adoption und Wiederheirat spielen hier eine Rolle, die „angeheirateten“ Kinder der neuen Ehefrau wollen mit diesen ominösen Häusern im fernen Deutschland nichts zu tun haben, nicht einmal soviel, dass sie sich auf den 1000 km weiten Weg zum nächsten deutschen Konsulat machen würden, um dort eine Erbausschlagung zu erklären.

Zwischendurch dauert das gesamte Verfahren selbst dem Vermögensamt zu lange: es überträgt das Eigentum kurzerhand 2001 zurück an die „teilweise unbekannten Erben“. Die Häuser sind unsaniert, der letzte staatliche Verwalter hat seit vielen Jahren keine Instandhaltung mehr vorgenommen, so dass nach und nach alle Mieter ausgezogen sind. Geld wollen die Amerikaner in fernen Deutschland nicht investieren, so fällt mir die Aufgabe zu, die leerstehenden Häuser irgendwie zu verwalten.

2 Wochen vor der Rückübertragung wärmen sich offenbar Obdachlose an einem kleinen Feuerchen im Dachgeschoss des einen Hauses. Der Dachstuhl steht in Flammen, den langfristig größeren Schaden richtet allerdings das Löschwasser der Feuerwehr an, das durch die Holzbalkendecken bis ins Erdgeschoss vordringt. Die vom staatlichen Verwalter abgeschlossene Minimal-Feuerversicherung bezahlt nur den Aufbau eines Schutzdaches, keine Wiederherstellungskosten. So entsteht im Haus ein wahres Biotop, der Aufenthalt im Haus wird so lebensgefährlich, dass das Bauordnungsamt mehrfach einen Abriss fordert.

2008 findet sich endlich jemand, der das abgebrannte Haus kaufen will. Ein Kaufvertrag wird geschlossen. Als nach einem Jahr die Zustimmung der kompletten Erbengemeinschaft aufgrund der Nachweisprobleme immer noch nicht vorliegt, wirft der Käufer das Handtuch und tritt vom Kauf zurück. Der nächste Käufer – 2011 gefunden – beweist mehr Geduld.

Inzwischen umfasst die Erbengemeinschaft 12 Personen, ein Zweig ist immer noch nicht aufgeklärt.

2018 gelingt auch der Verkauf des zweiten Hauses. Um beide Verkäufe abwickeln zu können, müssen im ungeklärten Erbzweig zwei Abwesenheitspfleger bestellt werden. Nachdem sich das Amtsgericht sehr lang ziert, das zu tun, hilft erst die direkte Intervention eines Käufers, der auch im Stadtrat sitzt und einen kurzen Draht zum Bürgermeister hat.

Auf der Zielgraden stellt sich heraus, dass ein weiteres Mitglied der Erbengemeinschaft verstorben ist. Die ihrer Tochter erteilte postmortale Vollmacht ist leider nicht notariell beurkunden und genügt deutschen Formvorschriften nicht, die Einsetzung eines dritten Abwesenheitspflegers durch das Amtsgericht dauert zum Glück nur noch wenige Wochen.

Im Sommer 2019 sind endlich alle Genehmigungen vorhanden, die verfallenden Grundstücke gehen auf die Erwerber über und der – dem Zustand der Häuser entsprechend sehr geringe – Kaufpreis fließt.

Doch jetzt geht es ans Verteilen des Kaufpreises innerhalb der Erbengemeinschaft, aus dem sich Streit entwickelt. Die Abwesenheitspfleger bestehen auf dem nominalen Anteil an der Erbmasse ohne Beteiligung an den in den letzten 23 Jahren aufgelaufenen Kosten, die realen Erben in den USA sehen nicht ein, warum sie allein die Kosten tragen sollen. Erst unter Vermittlung des deutschen Konsulats können die amerikanischen Erben überzeugt werden.

Heute endlich konnte ich den 9 verbliebenen amerikanischen Erben ihren Anteil an der Erbmasse überweisen – für alle zusammen knapp 550,00 Euro.

Damit geht ein Stück Familiengeschichte, aber auch Kanzleigeschichte für mich zu Ende. Das abgebrannte Haus hat mittlerweile einem Parkplatz weichen müssen, das andere Haus wird gerade saniert, nach 23 Jahren habe ich heute die Akte – inzwischen mehrere Aktenordner – zur Ablage freigegeben.

 

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Grützner

    Eine interessante Story, die mich an so manche in Romanen verfassten und teilweisen als Film umgesetzte Familiensagas über viele Generationen und Gesellschaftsordnungen erinnert.
    Unabhängig davon zeigen sich die undurchsichtigen Leistungen der Nachwendejahre immer wieder. „Rückgabe vor Entschädigung“ hat gelegentlich mehr zerstört, als ausgeglichen.
    Wann wurden denn die Häuser (inkl. Brandschaden) an den letzten Erben zurück übertragen? Seit 1990 haben er und die Häuser vom bürokratischen Stillstand auch nichts gehabt.

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